Wenn die Schmerzen überhand nehmen, können Teil- oder Vollprothesen des Schultergelenks Lebensqualität und Beweglichkeit zurückbringen.

Die ständigen Schmerzen sind es, die Arne F. zu PD Dr. med. Andreas Lenich getrieben haben. Der Spezialist für Schulter- und Ellenbogenchirurgie und Chefarzt der Klinik für Orthopädie, Unfall-, Handchirurgie und Sportorthopädie am Helios Klinikum München West kennt die Beschwerden, die Arne F. ihm schildert: Er kann sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt durchgeschlafen hat. Immer wieder wacht Herr F. nachts mit furchtbaren Schmerzen auf, wenn er die Schulter im Liegen unglücklich belastet. Tagsüber vermeidet er aus Angst vor Schmerzen Bewegungen mit dem rechten Arm. Einkaufstaschen trägt der Frührentner nur noch einhändig, seine Arbeit als Grünpfleger bei den Stadtwerken musste er aufgeben. „Wenn das Schultergelenk wie bei Herrn F. durch eine fortgeschrittene Arthrose geschädigt ist, kommt es immer auf das Ausmaß der Bewegungseinschränkung und die Schmerzen des Patienten an, ob eine Prothese in Frage kommt“, erklärt Dr. Lenich. . Je nachdem, wie die Schulter geschädigt ist, können wir durch eine Hemiprothese nur eine Gelenkfläche ersetzen oder aber eine inverse oder eine anatomische Schulterprothese implantieren.“ Eine anatomische Prothese imitiert das natürliche Gelenk, bzw. dessen betroffene Bestandteile und ermöglicht eine größere Kraftübertragung. Der Eingriff ist weniger invasiv und wird vorwiegend bei jüngeren Patienten ausgeführt. Eine inverse Prothese ist dann erforderlich, wenn auch die Muskeln und Sehnen der Schulter geschädigt sind. Sie bedient sich eines Tricks: Der künstliche Kopf wird dort angesetzt, wo die natürliche Pfanne lag und umgekehrt. Dadurch verlagert man den Drehpunkt so, dass andere, nicht geschädigte Muskelgruppen die Bewegung übernehmen können. Eine inverse Prothese erfordert einen größeren Eingriff und sollte immer die letzte Option sein, betont Schulterspezialist Lenich.
Wie beweglich ist ein künstliches Schultergelenk?
Das primäre Ziel des Gelenkersatzes an der Schulter ist die Beseitigung von Schmerzen. „Die Bewegungsmöglichkeiten hängen stark davon ab, wie aktiv und fit der Patient grundsätzlich ist“, betont Dr. Lenich. „Wer sich vorher wenig bewegt hat oder auch durch andere Krankheiten eingeschränkt ist, darf hinterher keine Wunder erwarten. Ich bin immer sehr vorsichtig mit Versprechungen. Allerdings sind die Langzeitergebnisse so gut, dass man in vielen Fällen von einer ‚forgotten shoulder’, einer ‚vergessenen Schulter’ sprechen kann.“ Der „forgotten shoulder-Effekt“ bedeutet, dass die Patienten ihr künstliches Gelenk im Alltag vergessen. Sie denken immer seltener an ihre operierte Schulter. Dr. Lenich klärt seine Patienten im Vorfeld der Implantation darüber auf, dass sie nach dem Einsetzen der Prothese ein halbes bis ein Jahr konsequent trainieren müssen, um die bestmögliche Beweglichkeit herzustellen. „Das gilt auch für Sportler. In unserem Reha-Programm ‚Back to sports’ stufen wir Sportarten wie Nordic Walking in Level 1 ein. Golf, Tennis oder Handball wären Level 4. Dann versteht es sich von selbst, dass ein Level 4-Sportler auch vier Mal so viel trainieren muss, wie ein Level 1-Sportler um zu seiner Zielsportart zu gelangen.“
Wie belastend ist das Implantieren einer Schulterprothese für die Patienten?
Dr. Lenich beruhigt seine Patienten mit der Versicherung, dass das Implantieren einer Schulterprothese weniger aufwändig ist als die Rekonstruktion einer Sehne. „Der Vorteil ist, dass wir keine Muskulatur durchtrennen müssen, also keine neuen Schäden verursachen und dadurch auch die Verletzungsgefahr von Nerven und Blutgefäßen sehr gering ist. Die Prothesen heilen gut ein und die Infektionsrate ist niedrig.“ Die Eingriffe dauern zwischen 45 Minuten und etwa eineinhalb Stunden. Normalerweise verbringen die Patienten je nach Fitnesszustand vier bis fünf Tage in der Klinik. Während der ersten zwei Tage werden sie durch einen Schmerzkatheter behandelt. „Viele berichten mir hinterher, dass sie nach der OP nachts endlich mal wieder schlafen konnten“, schmunzelt Dr. Lenich. Damit der Arm nicht versteift, werden Schulterpatienten sofort mobilisiert und erhalten Hilfestellung dabei, wie sie den Arm führen und bewegen sollten. Nur in der Nacht müssen sie etwa drei Wochen lang eine sogenannte „Traumaweste“ tragen, um unglückliche Stellungen oder Verletzungen im Schlaf zu vermeiden.
Wie lange hält eine Schulterprothese?
Die anatomische Prothese, die Dr. Lenich für Arne F. vorschlägt, hat eine durchschnittliche Standzeit von 12 Jahren. Danach berichten lediglich 10 Prozent aller Prothesenträger von Problemen, z.B. Lockerungen. Bei 90 Prozent funktionieren die künstlichen Gelenke auch nach 12 Jahren noch ohne Komplikationen, bei 80 Prozent sogar noch nach 20 Jahren. Bei inversen Prothesen sind die Standzeiten mittlerweile ähnlich. Aber natürlich kommt es auch hier auf die individuelle Belastung an: Schwere, körperliche Arbeiten belasten auch das künstliche Schultergelenk stärker als ein Bürojob. Das gute ist, dass sich die modernen Prothesen problemlos ersetzen lassen und modular aufgebaut sind, betont Schulterspezialist Lenich. „Es ist möglich, nur den Kopf einer Prothese auszuwechseln, den Schaft aber nicht anzurühren. Die aktuellen Entwicklungen und Forschungen konzentrieren sich genau auf diesen Bereich, nämlich nur die Gelenkteile zu ersetzen, die unter der Hauptbelastung Schaden genommen haben. Dabei kommen auch neue, minimalinvasive OP-Techniken zur Anwendung, die das Operationstrauma für den Patienten deutlich verringern. Und nicht zuletzt geht der Trend auch beim künstlichen Schultergelenk in Richtung Individualprothese. Zur Zeit steht uns Gelenkersatz in vier Größen zur Verfügung, die auf Mittelwerten basieren. In Zukunft können Patienten von einem hundertprozentig passenden Gelenkersatz profitieren, der im 3D-Druck-Verfahren nach ihren ganz eigenen körperlichen Voraussetzungen erstellt wird.“